Kälber dürfen am Euter ihrer Mutter saugen

Sommerserie Mensch und Tier

Es scheint das Natürlichste der Welt zu sein und ist dennoch unüblich: Auf dem Brüederhof in Dällikon dürfen Kühe ihre Jungen säugen. Doch ganz gesetzeskonform ist die Praxis derzeit noch nicht.

Text: Andrea Söldi
Bilder: Paco Carrascosa
Realisation: Michael Caplazi


Langsam macht sich bei Yena der Durst bemerkbar. Das drei Wochen alte Kalb ist von seinem Liegeplatz aufgestanden und wartet nun mit drei anderen Kälbchen am Eingang des Gatters. Eben sind die Kühe von der Weide zurückgekehrt. Einige schauen sich bereits nach ihren Jungen um. Um vier Uhr nachmittags ist es so weit: Die neunjährige Bauerstochter Livia darf das Tor öffnen. Sogleich drängen sich die Kälber hindurch und suchen nach ihren Müttern. Yena hat Peseta schnell gefunden und saugt nun genussvoll an ihren Zitzen.

Auf dem Brüederhof in Dällikon trinken die Kälber die Milch ihrer Mütter noch direkt vom Euter. Ein Bild, dass man heutzutage selbst auf Bio-Bauernhöfen nur noch selten sieht. Die meisten Bauern trennen ihre Kälber gleich nach der Geburt von der Mutter und verkaufen sie so früh wie möglich an spezialisierte Aufzuchtsbetriebe. So sparen sie Zeit und Geld.

Tiere sind gesünder

Die sogenannte muttergebundene Kälberaufzucht habe viele Vorteile, sagt Martina Knoepfel, die den Betrieb zusammen mit ihrem Mann Simon führt. «Sie gibt weniger Arbeit als das Aufziehen mit Flaschen. Denn wir brauchen keine Milch-Temperier-Maschine und müssen uns nicht mit dem Desinfizieren der Trinkflaschen herumschlagen.»

Zudem seien die Tiere weniger krank. Denn Kälber sind gemeinhin sehr anfällig für Durchfall oder Lungenentzündungen. In den ersten Wochen haben sie noch kaum ein eigenes Immunsystem. Viele Bauern greifen deshalb grosszügig zu Antibiotika. Auf dem Brüederhof seien diese Medikamente nur selten nötig, sagt Knoepfel. Die Tiere erhalten ausreichend Kolostrum der eigenen Mutter – eine Art Vormilch, die reich an Antikörpern ist. Dies gibt ihnen einen gewissen Schutz. Zudem geniessen die Tiere auf dem Brüederhof viel Auslauf und eine möglichst artgerechte Haltung in der Herde. Und sie dürfen ihre Hörner behalten.

Säugen soll legal werden

Vom Aspekt des Tierwohls her sei die muttergebundene Kälberaufzucht ideal, sagt  Stefan Schürmann von der Nutztierschutz-Organisation KAG (Konsumenten-Arbeits-Gruppe) Freiland. Problematisch sei aber, dass ein Kalb nicht so viel Milch trinken kann, wie die auf Hochleistung gezüchteten Kühe produzieren. Auch auf Biobetrieben sind 30 bis 40 Liter heutzutage üblich. Manche Kühe lassen sich nicht vollständig ausmelken, da sie die Milch für ihre Kälber zurückhalten. Dies kann zu Entzündungen des Euters führen.

Ausserdem handeln Milchbetriebe, die ihre Kälber bei den Müttern saugen lassen, in einem gesetzlichen Graubereich. Denn eine Verordnung schreibt vor, dass «das ganze Gemelk» abgegeben werden muss. Damit wollte man ursprünglich verhindern, dass Bauern nur die weniger gehaltvolle Milch abgeben. Denn beim Melkvorgang fliesst die reichhaltigste Milch erst am Schluss. Eine Motion von SP-Nationalrätin Martina Munz will die veraltete Vorgabe nun abschaffen. Der Nationalrat hat bereits zugestimmt. Folgt ihm der Ständerat, könnte die veraltete Regelung bereits im Januar vom Tisch sein.

Milch ist begehrt

Trotzdem hatte der Brüederhof in all den Jahren nie Probleme mit den Mich-Abnehmern. Denn die Qualität sei sehr gut, sagt Knoepfel. Der Emmi-Konzern habe die Bio-Milch bezüglich Nährstoffgehalt und Anzahl Keime kürzlich als eine der besten im Kanton ausgezeichnet.

Auch bei jungen Müttern, die selber stillen, stosse  die Milch aus emotionalen Gründen auf grosse Nachfrage, sagt Knoepfel. In Deutschland wird entsprechende Milch bereits erfolgreich als «Milch aus Elternzeit» vermarktet.

Trennung schmerzt sowieso

Doch so rührend die saugenden Kälbchen aussehen mögen – die reine tierische Familienidylle kann selbst diese Haltungsform nicht gewährleisten. Auch auf dem Brüederhof werden die männlichen Kälber nach drei Wochen in einen spezialisierten Mastbetrieb gegeben. Die weiblichen jungen Milchkühe dürfen in der Regel drei Monate bleiben.

Damit erlebt die Mutterkuh den Trennungsschmerz zwar nicht direkt nach der Geburt. In der Nutztierhaltung wird er aber nie ganz vermieden werden können. Wenn die Kühe ihr Junges schliesslich hergeben müssen, muhen sie laut und anhaltend. Je nach Ausprägung des Mutterinstinkts kann das bis zu fünf Tagen dauern.  «Es gibt immer ein Konzert», sagt Knoepfel. «Gegner dieser Haltungsform sagen, der Trennungsschmerz sei später sogar noch schlimmer.»

Peseta zum Beispiel ist eine sehr hingebungsvolle Mutter. Deshalb wird sie ihr Kalb behalten dürfen, bis es sechs Monate alt ist. Dies, obwohl die beiden Tiere einer Fleischrasse angehören. Normalerweise werden diese auf spezialisierten Betrieben gemästet.

Dass Yena noch auf dem Bauernhof bleiben darf, freut auch die beiden Kinder Livia und Milo. «Es ist mein Lieblingskälbchen», sagt das Mädchen.

Unterdessen ist Yena satt geworden, und Peseta wird in der Melkanlage noch zu Ende gemolken. Gesäugte Kälber trinken meist deutlich mehr Milch, als sie bei der Flaschenaufzucht erhalten – ein Faktor, der gemäss KAG Freiland ebenfalls die Gesundheit verbessert. Für den Bauern ist das zwar ein wirtschaftlicher Nachteil. Doch dafür könne man das Geld für den Tierarzt sparen.

Um vier Uhr lässt Livia die vier Kälbchen zu ihren Müttern, damit sie trinken können.

Um vier Uhr lässt Livia die vier Kälbchen zu ihren Müttern, damit sie trinken können.

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