Ein Spaziergang gegen das Vergessen

Am Montag jährt sich der Gedenktag an die Opfer des Holocausts. Im Unterland sind die Erinnerungen an diese mörderische Zeit rege – bei Bauern, Seniorinnen, Heimleitern. Der ZU nähert sich diesen Geschichten in einem Spaziergang an; er beginnt im Buchenloo, an der Grenze zu Wil, und endet in Rafz, wo 1945 zehn Bomben niedergingen.

Text: Sharon Saameli
Bilder: diverse
Realisation: Michael Caplazi


Eine kontinentale Depression zog Ende Januar 1945 über die Schweiz. Klirrende Kälte, 10 Grad unter null, ein Einbruch arktischer Kaltluft. 75 Jahre: Am 27. Januar befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. 1,5 Millionen Menschen waren in diesem Lager ermordet worden. 75 Jahre – heute sind die Stimmen jener, die überlebt haben, alt und drohen, vergessen zu gehen.

Wie erlebte das Rafzerfeld als Grenzregion den NS-Terror in dieser Zeit? Wie viel wusste man in der Schweiz davon, was im Norden vor sich ging?

Geschmuggelte Nachrichten

Einstieg in die S9 nach Hüntwangen-Wil. Der Bus fährt bis Lirenhof, Wil, danach geht es zu Fuss weiter. Die Tour beginnt im Buchenloo – da, wo die Schweiz endet. Kein Zoll, höchstens mal eine Grenzpatrouille weist auf diesen Umstand hin, und natürlich der grimmige Bundesadler im goldenen Schild.

In der vierten Generation betreibt die Familie Siegrist hier einen Bauernhof. Werner und Marianne Siegrist füttern die Tiere und hacken Holz zu «Schiitli». Den Zweiten Weltkrieg, die Gräuel, die ennet des Schwarzbachs begannen, haben sie natürlich nicht miterlebt – wohl aber ihre Grosseltern. Vor dem Krieg sei die Grenze viel weniger streng gehandhabt worden, erzählt Werner Siegrist. «Kinder kamen von Dettighofen her nach Wil zur Schule.» Als die Grenze 1939 geschlossen wurde, war die Kommunikation schwieriger, gefährlicher geworden. «Meine Grossmutter versteckte jeweils im Hühnerhäuschen die Zeitung», so Siegrist. So seien die deutschen Zöllner an Nachrichten über ihr eigenes Land gekommen – sie wurden sonst im Unwissen gehalten.

Der Fussmarsch führt durch Felder und ein kleines Wäldchen nach Süden. Ennet dem Hügel, an der Dorfstrasse, lädt das Restaurant Sternen an diesem bissig kalten Januartag zu Hackbraten und einer Spätzlipfanne ein. Mindestens zwei Mal jährlich finden hier die Gemeindeversammlungen statt. In den 1930er Jahren lud dort auch die «Nationale Front» (NF) zu Treffen ein.

Die «Fröntler» erhielten im Lauf des Jahres 1934 massiven Zulauf; fast jeden Monat fand eine Kundgebung oder Mitgliederversammlung statt. Die meisten der Treffen dieser faschistischen Partei fanden in Rafz statt; doch auch im Wilemer «Sternen» gab es Gespräche. Mitunter trug am 15. Dezember 1934 «Kamerad Hofer» über die Nationale Front und die Bauern vor. Die NF paarte einen verbissenen Antisozialismus mit Antisemitismus und hatte Erfolg damit: Bei den Kantonsratswahlen im Jahr 1935 erhielt sie in Wil 16 Prozent der Stimmen, in Wasterkingen 11, und in Rafz gar 25 Prozent. Dort soll der historische Rückblick denn auch enden – vorher aber bringt der Bus die wenigen Passagiere zurück zum Bahnhof. Es geht ins Rheinstädtchen, dahin, wo eines der wenigen Happy-Ends wartet.

Gedenktag zum Holocaust

Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar wurde 2005 von den Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust und den 60.Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eingeführt. Am Montag jährt sich die Befreiung demnach zum 75. Mal.

In Deutschland findet um diesen Tag im Deutschen Bundestag eine Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus statt – eine Mahnung gegen Hass, Zerstörung, Rassismus und Antisemitismus. Für unzählige Väter, Mütter, Kinder, Fahrende, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen kam die Rettung Ende 1945 zu spät. Bis zum Ende des Krieges waren bis zu 80 Millionen Menschen getötet worden, an den Fronten, in Spitälern oder Lagern. In den Konzentrationslagern derNazis litten auch um die 1000Schweizerinnen und Schweiz

Die schweizerischen Stromlieferungen waren für die Behörden des Dritten Reichs von hoher Bedeutung. Zentrale Wasserkraftwerke befanden sich an den Grenzflüssen wie dem Rhein - dazu gehörte auch jenes in Eglisau (Quelle: Keystone).

Die schweizerischen Stromlieferungen waren für die Behörden des Dritten Reichs von hoher Bedeutung. Zentrale Wasserkraftwerke befanden sich an den Grenzflüssen wie dem Rhein - dazu gehörte auch jenes in Eglisau (Quelle: Keystone).

«Das Boot ist voll»

Im Jahr 1942 schlossen Bundesrat und Parlament die Schweizer Landesgrenzen – im Wissen, was das für die verfolgten Juden hiess. Als man von den Taten der SS-Truppen erfuhr, äusserten sich gewisse bäuerliche Kreise im Unterland gar positiv: Die «Fernhaltung der fremden Flüchtlinge» stand im «nationalen Interesse der Schweiz», hiess es mitunter in der «Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung». Oder einfach auch: Mit 8300 aufgenommenen Flüchtlingen war für die Schweiz «das Boot voll».

Umso populärer war in der Gegend dann das Schicksal von Yitzchak Mayer und seines Bruders. Die beiden Buben waren, soweit bekannt, die einzigen jüdischen Menschen, die im Unterland Zuflucht vor der Naziverfolgung gefunden hatten.

In diesem Haus in Eglisau fand Yitzchak Mayer 1943 als jüdischer Flüchtlingsbub Unterschlupf und Schutz vor
dem Naziregime (Quelle: beb).

In diesem Haus in Eglisau fand Yitzchak Mayer 1943 als jüdischer Flüchtlingsbub Unterschlupf und Schutz vor
dem Naziregime (Quelle: beb).

Nun steht man also vor der Weierbachstrasse 7b, Eglisau. Es waren zwar nur sechs Monate, doch Yitzchak Mayer erzählt heute noch in schillernden Farben von seiner Zeit in diesem Haus, diesem Städtchen (siehe Interview rechts). Mayer ist fünf Jahre alt, als seine Familie im Jahr 1940 aus Belgien flieht – zwei Tage, bevor die deutsche Wehrmacht eintrifft. Mit seiner Mutter und Vater sowie seinem jüngeren Bruder steigt er in den überfüllten Zug nach Frankreich. Der Vater schliesst sich dem Widerstand an und wird später in Auschwitz ermordet – die Mutter ist mit den beiden Söhnen allein. Vom Jura her schaffen es die drei über die Schweizer Grenze, die hochschwangere Mutter bringt nur zwei Wochen später in Lausanne ihr drittes Kind zur Welt. Währenddessen erhalten Yitzchak Mayer und sein Bruder an ebendieser Weierbachstrasse ein Dach über dem Kopf, bei Fräulein Frieda Gantert, und besuchen die Schule. Nach Kriegsende bildet sich Yitzchak Mayer in Israel zum Botschafter aus und kommt in den Jahren darauf immer wieder nach Eglisau.

Yitzchak Mayer mit seinem Buch «La lettre muette» (deutsch: «Der stumme Brief», Foto: Olivier Vogelsang)

Yitzchak Mayer mit seinem Buch «La lettre muette» (deutsch: «Der stumme Brief», Foto: Olivier Vogelsang)

Der Holocaust sei überall gewesen, sagt er gegenüber dem «ZU» heute, doch Eglisau: Das sei der Himmel gewesen. Es ist eine der wenigen Geschichten, von denen man später sagen will: Wieso gab es das nicht öfter? Wieso hat die Schweiz nicht mehr jüdische Verfolgte aufgenommen, versteckt, versorgt?

Ein Flieger braust von Norden über den Kopf in Richtung Kloten. Die Swissair akzeptierte in der Kriegszeit – wie zahlreiche Schweizer Aktiengesellschaften – für ihre Flüge nach München die Bedingung, dass sich die Besatzungsmitglieder als «Arier» ausweisen konnten. Doch die Wirtschaft, die im nördlichen Zürcher Unterland aufgrund von Materiallieferungen nach Deutschland zu Engpässen führte, ist ein anderer Schauplatz.

Die Hochburg der Frontisten

Der Weg führt zurück nach Norden an die Grenze, vorbei an der Eglisauer Schützenhütte, an einem Kieswerk und dem Bahnhof Rafz. Ins Grenzdorf Rafz – die einstige «Hochburg der Frontisten».

Bauminschriften entlang der Rafzer Grenze während des Zweiten Weltkriegs (Foto: Chronikstube Rafz)

Bauminschriften entlang der Rafzer Grenze während des Zweiten Weltkriegs (Foto: Chronikstube Rafz)

Vor Beginn des Krieges hatte die Nationale Front, zu deren populären Mitgliedern etwa James Schwarzenbach gehörte, im Rafzerfeld ein Zuhause gefunden. Rafz war das Zentrum, das Zuhause der NF. Chefs mehrerer grösserer Betriebe waren «Fröntler» und setzten ihre Angestellten unter Druck. Die Restaurants «Kreuz» und «Bahnhof» waren in faschistischen Händen. Als die NF eine Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung anstiess, lehnte zwar das Schweizer Volk diese mit über 70 Prozent ab. Aber: Aus Rafz kamen 216 Ja- und 154 Nein-Stimmen. Knapp zwei Drittel unterstützten die Einschränkung der Volks- und Freiheitsrechte.

Auch in lokalen Zeitungen wurden die Taten der SS gelobt. In der «Wochenzeitung» etwa war man der Meinung, das «hohe Verdienst der Nationalsozialisten» bestehe darin, «Deutschland vor der kommunistischen Revolution bewahrt» zu haben. Und im «Volksfreund» – der Vorgängerzeitung des «Zürcher Unterländers» – äusserte sich Nationalrat Eugen Bircher ganz im Stil nationalsozialistischer Propaganda: «Und heute darf man ruhig behaupten, dass die Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten Ende Januar 1933 in der allerletzten Stunde vor dem bolschewistischen Aufstand erfolgte.»

Hier, vor der Reformierten Kirche, denkt wohl mancher ältere Rafzer noch an die Familie des Organisten Jakob Sigrist zurück. Sprechen kann mit dieser Familie längst niemand mehr. Denn am 22. Februar 1945 warfen die Alliierten Bomben auf Rafz ab, das Chalet des Organisten wurde getroffen und die ganze, achtköpfige Familie getötet. Es sei der wohl «schwärzeste Tag» der Rafzer Geschichte, schrieb der Rafzer Chronist Salomon Hänsler. Westlich und nördlich der Kirche gingen Rauchschwaden auf, Erdklumpen und Steine flogen durch die Luft. Von den zehn Bomben sind acht Stück explodiert.

Feuerwehrleute und Rettungsmannschaften auf den Überresten des Rafzer Chalets nach der Bombardierung 1945 (Foto: Eugen Suter/Keystone).

Feuerwehrleute und Rettungsmannschaften auf den Überresten des Rafzer Chalets nach der Bombardierung 1945 (Foto: Eugen Suter/Keystone).

Erinnerungen

«Egal, über welches Thema ich mit den Seniorinnen und Senioren spreche – am Schluss erzählen sie fast immer vom Krieg.» Stephan Kunz, 51 Jahre alt, hat den Zugang zu dieser angsterfüllten Zeit als Altersheimleiter des Peterackers gefunden, aus den Erzählungen der Heimbewohnerschaft. Die letzte Station des Spaziergangs liegt wiederum kurz vor der deutschen Grenze, nahe des Rafzer Zolls – und noch näher am Schützenhaus: das Alters- und Pflegeheim Peteracker. Jeden Dienstagmorgen lädt Kunz hier zum Gespräch über irgendein Thema ein, das Telefon, die Schulferien, «um das Gedächtnis zu aktivieren», nicht um zu werten oder zu prüfen. «Der Krieg hat sie alle geprägt», weiss er. Einige unter ihnen haben die Bomben in Rafz miterlebt, nur zwei Häuser weiter seien sie eingeschlagen. Immerhin ein Gutes hatte das Ganze: «Das Gefühl der Anerkennung, als General Guisan nach Rafz kam, um die Bombenlöcher zu studieren – das ist allen geblieben.» Die meisten könnten sich erstaunlich genau an Details dieses Tages erinnern.

Einige erinnern sich auch noch daran, dass sie ihre Velos immer vor das Schulhaus in Rafz stellen mussten. So waren diese griffbereit, sobald der Alarm losging. «Die Seniorinnen und Senioren erzählen mir dann, dass sie genau eine Stunde Zeit hatten, um es in Eglisau noch über die Brücke zu schaffen. Wären die Deutschen einmarschiert, hätte die Schweizer Armee ebenjene Brücke gesprengt.» Nach dem Krieg kam freilich nicht nur Erleichterung auf. «Es gab eine Zeit, als der Krieg vorbei war und beispielsweise in Lottstetten und Jestetten etliche Bauernhöfe geräumt wurden. Rafzer Bauern haben diese Höfe übernommen und geführt, bis die alteingesessenen deutschen Landwirte zurückkamen.»

Gegen Ende des Krieges lehnte das Rafzerfeld die Machenschaften des Hitlerregimes entschieden ab; die Solidarität mit den deutschen Nachbargemeinden war gross, als die badische Bevölkerung im Mai 1945 von französischen Truppen zum Verlassen ihrer Dörfer gezwungen wurden. Durch diese Hilfsaktionen entstanden auch Beziehungen, Liebschaften über die Grenze hinweg neu.

Quellen:
Thomas Neukom (2005): Rafz – Geschichte eines Zürcher Dorfes «ennet dem Rhein». Zürich: Chronos Verlag
Franz Lamprecht und Mario König (1992): Geschichte der Brückenstadt am Rhein. Zürich: Chronos Verlag
Archiv der Schweizer Mediendatenbank (SMD)
Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz (2016): Witterungsberichte Schweiz 1940 – 1949
Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz (2002): Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo Verlag.

Hier geht es zum Interview mit Yitzchak Mayer

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