Den Baudenkmälern auf der Spur

Ein Forschungsteam der Universität Zürich nimmt aktuell den Bezirk Dielsdorf unter die Lupe. Nebst viel Archivarbeit und Besuchen von Liegenschaften spielt dabei auch die Dendrochronologie – die Jahresringforschung – eine Rolle.

Text: Sharon Saameli
Bilder: Balz Murer
Realisation: Michael Caplazi

Seit 75 Jahren wurde der Bezirk Dielsdorf nicht mehr so genau betrachtet wie jetzt. Die Kunsthistorikerinnen Regula Crottet und Anika Kerstan und der Historiker Philipp Zwyssig wollen innert vier Jahren den gesamten Bezirk Dielsdorf – alle 22 Gemeinden – erforschen und die bedeutsamsten Bauten zusammentragen. Dafür leisten sie vier Jahre lang detektivische Arbeit. Erscheinen wird der Band im Jahr 2023 im Rahmen der Bücherserie «Die Kunstdenkmäler der Schweiz». Zum letzten Mal geschah das für den Bezirk Dielsdorf 1943.

Die Publikation von 1943 ist aus diversen Gründen nicht mehr aktuell: Da im selben Band auch die Bezirke Bülach, Hinwil, Horgen und Meilen Platz fanden, musste sich der Bezirk Dielsdorf – mit all seinen Raritäten – mit gut 60 Buchseiten begnügen. Der neue Band soll knapp 500 Seiten schwer sein. Dazu hat sich der Fokus der Bücherreihe «Die Kunstdenkmäler der Schweiz» in all den Jahren verändert. «Während früher vor allem Kirchen oder herrschaftliche Bauten im Vordergrund standen, berücksichtigen wir jetzt beispielsweise stärker auch bäuerliche Bauten oder Ökonomiegebäude», sagt die Kunsthistorikerin Anika Kerstan. Auch der Zeithorizont hat sich erweitert – waren ursprünglich Bauten bis 1850 von Interesse, können sie jetzt bis in die Gegenwart für die Publikation spannend sein.

Die Serie «Die Kunstdenkmäler der Schweiz» existiert seit 1927 und umfasst aktuell 137 Bände aus zahlreichen Kantonen. Bis heute stellt sie die einzige Gesamtdarstellung der architektonischen und kunstgeschichtlichen Besonderheiten der Schweiz dar. Herausgegeben wird sie von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK) mit Sitz in Bern. Der Kanton Zürich engagiert sich seit 1929 in der «Kunstdenkmäler-Inventarisation», seit 2018 wird der Auftrag vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich im Auftrag der kantonalen Baudirektion ausgeführt. Die finanziellen Mittel stammen aus dem Lotteriefonds.

Ein Haus an der Bergstrasse in Stadel hat das Interesse der Forschungsgruppe geweckt.

Ein Haus an der Bergstrasse in Stadel hat das Interesse der Forschungsgruppe geweckt.

Im Kontext dieser Aufarbeitung spürt das junge Forschungsteam der Universität Zürich verschiedenste Quellen auf. Einen Grossteil davon finden sie in Archiven: die Lagerbücher der Brandversicherung beispielsweise, die seit 1812 existieren, aber auch alte Urkunden und Pläne oder neuere Zeitungsartikel sowie Fotos und Luftaufnahmen. Dann suchen sie auf Ortsbegehungen nach interessanten architektonischen Spuren. Schliesslich trägt auch die Bevölkerung zum Buch bei. Denn: «Wir suchen in jeder Gemeinde den Kontakt zu ortskundigen Personen, die sich mit der Geschichte des Dorfs auskennen. Auch der Kontakt mit Hauseigentümerinnen und -eigentümern ist für uns sehr wertvoll», sagt Regula Crottet.

Ein seltener Bau in Stadel

Im Fall Stadel haben sie während eines Rundgangs mit Alt-Gemeindeschreiber Richard Kälin den Tipp erhalten, dass die Bergstrasse 2 etwas Besonderes sei. Das Bauernhaus fällt bereits durch seine teilweise noch vollständig in Holz erstellte Rückfassade auf, die auf ein hohes Baualter hinweist. Am Aussenbau liess sich beim Rundgang jedoch nicht erkennen, dass sich im Innern das Holzgerüst eines Mehrreihenständerbaus – wohl aus dem 16. oder 17. Jahrhundert – verbirgt. Mehrreihenständerbauten, die in dieser Ausprägung nur in der Stadt Zürich und der Region um Zürich vorkommen, gehören wie die sogenannten Hochstudbauten zu den ältesten erhaltenen Bauten der Region und sind nur noch selten vorhanden. «Dieser Bau gehört bisher zu unseren Highlights», erzählt Regula Crottet, als sie an diesem Nachmittag im Dachstock steht. «Wir sind hier hochgestiegen und fanden nur noch: Wow!»

Mit der Altersbestimmung des Holzes hilft Jean-Pierre Hurni dem Forschungsteam der Universität Zürich bei den Recherchen.

Mit der Altersbestimmung des Holzes hilft Jean-Pierre Hurni dem Forschungsteam der Universität Zürich bei den Recherchen.

Das Holz spielt für die Altersbestimmung des Baus eine entscheidende Rolle. Hier machen sich Jean-Pierre Hurni und Bertrand Yerly vom Laboratoire Romand de Dendrochronologie an die Arbeit. «Mithilfe der Dendrochronologie lässt sich aufs Jahr genau herausfinden, wann ein Baum gefällt wurde», erklärt Anika Kerstan. Präzise ist die Jahrringanalyse jedoch nur, wenn das verbaute Holz noch die Waldkante zeigt. Aus diesem Grund sucht Jean-Pierre Hurni eine Weile nach dem idealen Ort für eine Handbohrung. «Früher haben wir auch elektrische Bohrer verwendet, was sich aber unter anderem wegen der nötigen Stromzufuhr als zu umständlich herausstellte», sagt er.

Sechs Proben reichen aus

Am dünnen Holzstab, den er aus dem Dendrobohrer presst, lassen sich schliesslich probeweise die Jahresringe ablesen – je nach klimatischen Bedingungen produziert der Baum breitere oder schmalere. «Aber jeder Baum reagiert anders aufs Klima», weiss Hurni. Dennoch könne er die Bauzeit eines Gebäudes mit sechs Proben aufs Jahr genau bestimmen. «An diesem Exemplar lässt sich jetzt schon mal feststellen, dass das Holz in gutem Zustand ist. Nur die letzten zwei Zentimeter weisen Wurmlöcher auf.»

«Jeder Baum reagiert anders auf das Klima.»

Jean-Pierre Hurni
Laboratoire Romand de Dendrochronologie


Damit kann das Forschungsteam zwar Aussagen über das älteste Baudatum machen, noch nicht aber über die vollständige Baugeschichte des Hauses – schliesslich wurden in den letzten rund 300 Jahren Geschichte des Hauses Anbauten gemacht und zahlreiche Renovationen vorgenommen. Der Hausbesitzer Gerhard Meier erzählt beispielsweise, dass der Dachstock in einem schlimmen Zustand war, als er es vor 15 Jahren erwarb. «Wir haben eine Mauer hochgezogen und den Boden sanft renoviert», sagt er. Ausserdem wisse er, dass die Dachziegel erst rund 30 Jahre alt sein können; sie sind geklammert, was in Flughafennähe notwendig ist, damit sie keine Angriffsfläche für Luftwirbel bilden.

Auf einem lose neben dem Haus aufgestellten Sandsteinquader ist die Zahl 1781 zu lesen – der Hausbesitzer Gerhard Meier erzählt jedoch, dass der Vorbesitzer vom Baujahr 1678 gewusst haben soll. Welches könnte nun die korrekte Zahl sein? Ebenso offen ist die Frage, wer den mächtigen Bau erstellt und wer in all den Jahrhunderten darin gewohnt hat. Das Forschungsteam wird mehr Zeit für Antworten darauf brauchen.

Dielsdorf macht den Anfang

Pro Gemeinde wendet das Trio im Schnitt zwei bis sechs Monate auf – Recherche, Ortsbegehung und Kapitelschreiben inklusive. Ende 2021 soll das Manuskript fertig sein und 2023 die Publikation erscheinen. Auch zu den Bezirken Affoltern am Albis, Andelfingen, Bülach, Hinwil, Horgen und Meilen sind neue Bände der Buchreihe «Kunstdenkmäler der Schweiz» vorgesehen. Das Buch über den Bezirk Dielsdorf bildet den Anfang.


«Wir suchen in jeder Gemeinde den Kontakt zu ortskundigen Personen, die sich mit der Geschichte des Dorfs auskennen.»

Regula Crottet, Kunsthistorikerin

Anika Kerstan (links), Regula Crottet und Philipp Zwyssig sind für die Universität Zürich unterwegs.

Anika Kerstan (links), Regula Crottet und Philipp Zwyssig sind für die Universität Zürich unterwegs.

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